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Welche Erkenntnisse liefert die NEPS-Studie?

Muttersprache nützt Jugendlichen mit Zuwanderungshintergrund beim Lesen

03.02.2017

Eine andere Muttersprache als Deutsch zu haben, galt lange Zeit als Defizit. Dass es auch nützlich sein kann, eine andere Sprache als Deutsch in der Familie zu lernen, zeigt eine aktuelle Studie: Jugendliche mit Zuwanderungshintergrund profitieren beim Lesen deutschsprachiger Texte davon, wenn sie ihre Muttersprache gut beherrschen.

©panthermedia / jarenwicklund

Einen Text lesen und verstehen zu können, ist eine der wichtigsten schulischen Fähigkeiten. Die Entwicklung der Lesefähigkeit beginnt bereits beim Vorlesen in der Familie und setzt sich in der Schule bis ins Erwachsenenalter fort. Lesen gilt als zentrale Voraussetzung, um in der Schule und im Beruf erfolgreich zu sein. Expertinnen und Experten erforschen deshalb seit langer Zeit, was das Leseverständnis von Heranwachsenden beeinflusst. Bisher lag die Aufmerksamkeit in Studien zumeist auf Menschen, bei denen die Muttersprache der Umgebungssprache entspricht. Allerdings gibt es in Deutschland viele Kinder und Jugendliche, die eine andere Muttersprache als Deutsch haben: Während sie mit Eltern und Geschwistern oft ausschließlich in ihrer Muttersprache interagieren, wird in der Schule Deutsch gesprochen. Mehrsprachige Kinder und Jugendliche haben daher deutlich andere Voraussetzungen, um das Lesen auf Deutsch zu lernen, als einsprachige Leserinnen und Leser.

In ihrer Studie untersuchten Aileen Edele und Prof. Dr. Petra Stanat von der Humboldt-Universität zu Berlin, Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB), den Zusammenhang zwischen dem Hörverstehen in der Muttersprache und den Lesefähigkeiten in Deutsch. Die Kernfrage dabei war, ob Jugendliche mit Zuwanderungshintergrund beim Deutschlesen von ihrer Muttersprache profitieren. Anhand von Daten der NEPS-Studie „Schule, Ausbildung und Beruf“ werteten die Wissenschaftlerinnen Antworten von 1.164 Neuntklässlerinnen und Neuntklässlern unterschiedlicher Schultypen aus, die in ihrer Kindheit entweder Russisch oder Türkisch gelernt haben und noch heute beherrschen. Es handelte sich sowohl um Jugendliche, die selbst zugewandert sind, als auch um Heranwachsende, deren Eltern oder Großeltern Migrationserfahrung haben. Mehrere Aufgabenbereiche, insbesondere das Leseverständnis, die Leseflüssigkeit und das Wortschatzwissen in Deutsch, das Hörverstehen in Russisch bzw. Türkisch sowie allgemeine kognitive Fähigkeiten wurden erhoben. Die Aufgaben zum Deutschlesen bestanden z. B. darin, anhand unterschiedlicher Texte (u. a. Berichte, Dialoge und kurze literarische Texte) textbezogene Aufgaben zu lösen oder wesentliche Inhalte in einer Zusammenfassung zu formulieren.


Muttersprache nützt dem Deutschlesen

Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass die Muttersprache für das Lesen eine Bereicherung ist: Die Studie zeigt, dass sich ein gutes Verständnis der Muttersprache positiv auf das Deutschlesen auswirkt – und zwar weitgehend unabhängig von besuchtem Schultyp und sozialem Status der Eltern. Vermutlich handelt es sich dabei um sprachenunabhängiges Wissen, das aus der Muttersprache auf das Deutsche übertragen werden kann und mehrsprachige Jugendlichen beim Lesen deutschsprachiger Texte unterstützt. Trotzdem bestätigt die Studie erneut: Bei Leseaufgaben schneiden Neuntklässlerinnen und Neuntklässler nicht deutscher Muttersprache im Vergleich zu ihren Mitschülerinnen und -schülern deutschsprachiger Herkunft etwas schlechter ab. Ebenso zeigte sich einmal mehr der Unterschied zwischen den Schulformen: Mehrsprachige Gymnasiasten verfügen über bessere Deutschlesefähigkeiten als Hauptschülerinnen und -schüler.


Bessere Muttersprachkenntnisse = Bessere Deutschkenntnisse

Die Vermutung liegt nahe: Je besser Jugendliche ihre Muttersprache verstehen, desto enger hängen die muttersprachlichen Fähigkeiten mit dem Leseverständnis der deutschen Sprache zusammen. Zumindest für die türkischsprachige Gruppe konnte die Studie dies belegen. Anders sieht es bei russischen Muttersprachlerinnen und Muttersprachler aus: Hier scheinen die muttersprachlichen Kompetenzen auf allen Sprachniveaus ähnlich eng mit den Deutschlesefähigkeiten zusammenzuhängen. Das Phänomen sei vermutlich auf die geringere Ähnlichkeit von Türkisch und Deutsch, im Vergleich zu Russisch und Deutsch, zurückzuführen, so die Autorinnen. Ist beispielsweise der Satzbau sehr unterschiedlich oder lässt der Wortschatz wenige Analogien zwischen den Sprachen zu, so wie bei Türkisch und Deutsch, dann kann nur sprachenunabhängiges Wissen beim Lesen übertragen werden. Da Schülerinnen und Schüler mit einem hohen Leistungsniveau eher über dieses Wissen verfügen, profitieren sie im türkischsprachigen Sample eher in Bezug auf das Leseverständnis in der deutschen Sprache.


Aber: Maßgeblich ist auch die Familiensprache

Auch die Familiensprache steht mit dem Deutschlesen in engem Zusammenhang. Jugendliche mit einer anderen Familiensprache als Deutsch schneiden in Leseaufgaben schlechter ab als Schülerinnen und Schüler, die zu Hause häufiger Deutsch sprechen – trotz der Bereicherung durch die Muttersprache. Dieser scheinbare Widerspruch lässt sich folgendermaßen erklären: Wenn mit Eltern und Geschwistern häufig oder ausschließlich Russisch bzw. Türkisch gesprochen wird, hat das zwar einen positiven Einfluss auf die Beherrschung der Muttersprache und damit auf das Deutschlesen, es gibt aber weniger Gelegenheiten zum Deutschlernen. Ist die Familiensprache hingegen Deutsch, dann haben Jugendliche öfter die Gelegenheit, ihre Deutschkenntnisse und damit das Deutschlesen zu verbessern.

Originalliteratur

Edele, A. & Stanat, P. (2016). The role of first-language listening comprehension in second-language reading comprehension. Journal of Educational Psychology, 108(2), 163–180.

Zitierhinweis

Leibniz-Institut für Bildungsverläufe e.V. (2017, Januar): Muttersprache nützt Jugendlichen mit Zuwanderungshintergrund beim Lesen (NEPS Ergebnisse). Bamberg, Deutschland.